Als der Krieg zu Ende ging ...

und die Amerikaner einmarschierten! 

Erinnerungen eines Achtjährigen.

Nachdem wir in Düsseldorf ausgebombt waren, zogen meine Mutter, meine Schwester und ich auf den Bauernhof zu meiner Oma Helene auf den Büttger Wald, wo ich auch geboren bin. Dieses Gebiet, heute zu Willich-Schiefbahn gehörend, war ausschließlich von Bauernhöfen besiedelt. Mein Vater und alle dienstfähigen Männer der Familie waren im Kriegseinsatz. Die Bauernhöfe wurden durch die Frauen bewirtschaftet. Als Hilfe wurden Kriegsgefangene zwangsverpflichtet, bei uns war es eine junge Polin und ein Serbe. In den Jahren 1943/44 mussten die Pferde gegen Ochsen ausgetauscht werden. Wir hatten zwei, einen weißen und einen roten. Der weiße war dick und umgänglich, der rote dagegen schlank und ein Volltemperament, dem wir Kinder nicht zu nahe kommen durften.

Vater auf einem kurzen Heimaturlaub – meine Schwester und ich auf dem Fahrrad, 
 dazu Hans und Willi Bongartz, die Vettern vom Bauernhof

Im Herbst 1943 wurde ich in Schiefbahn eingeschult. In den Kindergarten konnten wir wegen der weiten Entfernung nicht gehen. Wir kannten nur die Kinder von den anderen Bauernhöfen, mit denen wir nur gelegentlich spielen durften. In dem Dorf Schiefbahn kannte ich niemanden.
Deshalb war ich dankbar, dass die Zwillinge Fine und Otti Hops mich in die Mitte nahmen, zur ersten Schulstunde. In Erinnerung geblieben ist mir das Jahr 1944, mit dem Datum des 20. April. Der Führer hatte Geburtstag. Wir mussten eine lange Rede über uns ergehen lassen, währenddessen wir mit dem Hitlergruß eine stramme Haltung einnehmen mussten. Wer den Arm sinken ließ, hatte mit einer sofortigen Strafe zu rechnen.

Alte Volksschule in Schiefbahn
Die alte Volksschule in Schiefbahn gegenüber der Pfarrkirche St. Hubertus wurde 1968 abgerissen und ist heute nur noch Parkplatz.

Auf dem Bauernhof am Büttger Wald lebten wir wie auf einer Insel. Wir kannten außer der Schule keine Läden, weder Bäcker, Metzger noch Lebensmittelgeschäfte. Das hat mir, als wir später in das Dorf Schiefbahn zogen, große Anfangsschwierigkeiten bereitet, ich musste zum Teil gezwungen werden, selbständig einzukaufen; oder wie man heute sagen würde, ich hatte erhebliche Kommunikationsschwierigkeiten. Mein Schulweg betrug ca. zwei Kilometer durch Feld und Wiese, bei jedem Wetter; dazu kam, dass ich sonntags morgens in die Kirche ging und am Nachmittag den gleichen Weg zur Kirchenlehre zurücklegen musste.

Das Foto zeigt das winterliche Bild, wenn ich aus Feld und Wiese, den Bahnübergang passierte und auf die Kopfstein gepflasterte Straße traf, die in das Dorf Schiefbahn führt. Das Ziel vor Augen erfasste man den Ort in seiner ursprünglichen Ausdehnung. Dieser Anblick ist immer in meiner Erinnerung geblieben und auch die Fürsorge meiner Oma, in den bitterkalten Wintern zwei Bonbons mit auf den Schulweg zu geben, einen für den Hinweg, einen für den Weg nach Hause. Der Sinn war, den Mund möglichst geschlossen zu halten, um sich nicht zu erkälten. Ob die Mundfüllung jeweils reichte, kann ich heute nicht mehr sagen.

Das war für einen achtjährigen ein Tagespensum von acht Kilometern. Da gab es kein Ausweichen und keine Entschuldigung, es war selbstverständlich! Über den Krieg und Kriegsverlauf wurde zu Hause nicht geredet. Von Politik bzw. Nationalsozialismus schon gar nicht, ich hätte es sowieso nicht verstanden.

Dass es jüdische Menschen und Mitbürger gab, habe ich erst nach dem Krieg erfahren. Vor allem, was mit Ihnen geschehen ist. Außer Werner Rübsteck, der nach seiner Befreiung 1947 nach Palästina auswanderte, kehrte nur Fritz Kaufmann, von den Amerikanern aus Dachau befreit, 1945 nach Schiefbahn zurück. Kurz danach habe ich ihn während eines Besuches bei unseren Nachbarn, der Familie Schmitz (Bister), kennengelernt. 1950 wanderte er nach Amerika aus. 1975 besuchte er im Rahmen eines Besuchsprogramms für ehemalige jüdische Bürger seine Heimatstadt. Am 14. September 1997 verstarb Fritz Kaufmann in New York.

 Friedrich Kaufmann lebte bei seinen Eltern im Haus Schulstraße 2 in Schiefbahn 
 und erlernte den Beruf des Elektrikers. 

Ab 1939 musste er Zwangsarbeit im Rahmen des „jüdischen Arbeitseinsatzes" leisten. In dieser Zeit lernte er die Familie des Landwirts Schmitz im Büttgerwald kennen, bei denen er arbeiten konnte. Von dort wurde er auch am 26. Oktober 1941 mit einem Lastwagen abgeholt. Seine Familie saß schon mit dem Gepäck auf dem Wagen, so die Zeitzeugin Maria Ungermanns.

Am nächsten Tag wurde Fritz Kaufmann mit seinen Eltern und Geschwistern in das Ghetto von Łódź deportiert. Dort wurden sie in das Zimmer 6 der „Düsseldorfer Kollektivunterkunft" Fischstraße 21 eingewiesen. Von dort schrieb Fritz an die Familie Schmitz im Dezember 1941 eine Postkarte mit dem Inhalt:

 „Uns geht es allen ganz gut. Viele Grüße von uns allen, an alle. Euer Fritz"

In den letzten Wochen des Krieges sahen wir abends über den Bäumen des Büttger Waldes den lodernden Schein des brennenden Mönchengladbach. In einer weiteren Nacht sah ich den Absturz eines deutschen Kampfflugzeuges in ca. 500 Meter Entfernung in die Wiese eines Bauernhofes auf Korschenbroicher Gebiet. Der Pilot konnte geborgen werden, starb aber kurz darauf im Krankenhaus. Am nächsten Morgen lief ich zur Absturzstelle und sah das zerstörte Flugzeug. Ich kann heute noch die Absturzstelle bezeichnen. Vor dem Bauernhaus, in der angrenzenden Wiese hatte mein Onkel mit fachlicher Hilfe einen Bunker gebaut, der heute noch als Störfaktor in der Landschaft steht. Es gab nur einen Eingang, eine tödliche Falle. Wäre der Bunker getroffen worden, hätte es keine Rettung für uns gegeben.Als man die Gefahr erkannt hatte, suchten wir Schutz im Gewölbekeller unter der Scheune. Dass der Krieg näher kam, erfuhren wir durch einen Einschuss in den Scheunen-Giebel. An einem sonnigen Tag wollte meine Mutter draußen die Wäsche aufhängen und wurde von einem tieffliegenden amerikanisches Jagdflugzeug beschossen. Als Augenzeuge stand ich in unmittelbarer Nähe. Danach überstürzten sich die Ereignisse innerhalb kürzester Zeit: Eines Tages kamen zwei deutsche Panzer und ein schnelles Kettenfahrzeug mit Offizieren auf unseren Bauernhof. Die Soldaten warfen Tarnnetze über die Fahrzeuge. Oma und ihre beiden Töchter, meine Mutter und Tante Tina, haben die Soldaten bestens bewirtet, sie waren auf der Flucht. In den beiden Panzern haben wir später als Kinder gespielt. Sie waren auf einem schlammigen Weg im Büttger Wald stecken geblieben. Was aus unseren Soldaten geworden ist, habe ich nie erfahren. Nachdem die deutschen Panzer abgezogen waren, waberten Nebelfelder über das nahe Umfeld. Aus dem Nebel kam ein deutscher Soldat auf einem Fahrrad auf unseren Bauernhof zu. Es war Hubert Bongartz (genannt Brocker), der Bruder meines Onkel Heinrich, des eigentlichen Bauern.

Er war noch nicht lange bei uns, da kam ein schwerer amerikanischer Panzer auf die Hofeinfahrt zu. Meine Mutter hatte ein weißes Betttuch ins Fenster gehängt und meine Tante Tina ging mutig, mit einer weißen Fahne „bewaffnet“, dem Panzer entgegen. Nun besetzten die amerikanischen Soldaten den Hof.

Der Bauernhof, unser Domizil in jener Zeit - Amerikanischer Panzer M4 Sherman, (Wikipedia)

Sie wurden ebenfalls, wie unsere Soldaten kurz zuvor, mit einem gedeckten Tisch empfangen. Derweil mimte Hubert Bongartz den Bauern und hatte als Tarnung meine Cousine Agnes, die gerade ein paar Monate alt war, auf dem Arm. Er hat sich später gestellt und kam noch in französische Gefangenschaft. Was wir später auch von anderen Kindern hörten, haben wir auch erlebt. Die dunkelhäutigen amerikanischen Soldaten, „Neger“, flößten uns keine Angst ein, von ihnen bekamen wir Schokolade. Sie mussten es versteckt tun, damit es ihre weißen Kameraden nicht sahen.

Am 31. August 1943 zerlegten britische Bomber die Stadt M.Gladbach in Schutt und Asche

10/13120 Kriegszerstörung MG; Blick von der Speicker Straße bzw. Lüpertzender Straße auf Münster und Abteiberg 1945
10/13120 Kriegszerstörung MG; Blick von der Speicker Straße bzw. Lüpertzender Straße auf Münster und Abteiberg 1945
10/5310  MG, Kriegszerstörung: Lüpertzender Straße Ecke Stepgesstraße 31.08.1943 Foto: Forst, Rosa
10/5310  MG, Kriegszerstörung: Lüpertzender Straße Ecke Stepgesstraße 31.08.1943 Foto: Forst, Rosa

Fotos mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Mönchengladbach
 
Im Jahre 1952 ging ich nach M.Gladbach, als Schriftsetzer, bei der Druckerei B. Kühlen in die Lehre. Von Schiefbahn aus fuhr ich mit der Straßenbahn zum M.Gladbacher Hauptbahnhof.

Straßenbahn

Damals fuhr noch die gute alte Straßenbahn. Nach M.Gladbach fuhr man mit der Linie 14 und nach Krefeld mit der Linie 8. Auf dem Foto sieht man den Wagenzug der M.Gladbacher Verkehrsbetriebe in der Weiche auf der Seidenweber Straße in Schiefbahn, wo sich beide Linien kreuzten. 1962 wurden beide Strecken, sowohl nach M.Gladbach, wie auch nach Krefeld eingestellt. Fotonachweis Ludwig Hügen

Mein Weg führte vom Hauptbahnhof bis nach Untereicken auf die Neuhofstraße. Überall waren noch deutliche Spuren der Zerstörung zu sehen und vieles war noch nicht wieder aufgebaut. Wo einst ein großes Geschäftshaus Eingang Eickener Straße / Ecke Hindenburgstraße stand, war jetzt ein abgeräumtes Trümmergrundstück. Es war an einem Samstag nach Arbeitsschluss, es gab noch die 48-stundenwoche, stand dort ein Lastwagen mit offener Ladefläche und vollgestopft mit Bananen. Ein Marktschreier, der seinem Namen alle Ehre machte, verkaufte die Bananen im Minutentakt. Ich war so fasziniert, das ich bis zum Ende das Schauspiel genoss. Natürlich kam ich viel später nach Hause als üblich.

Was ich Jahre später erfuhr: Binnen weniger Wochen besetzten amerikanische und britische Truppen im Frühjahr 1945 ganz Westfalen. Stadt für Stadt, Dorf für Dorf wurden zum Teil gegen erbitterten deutschen Widerstand, zum Teil auch kampflos erobert. US Kameraleute machten zum Teil spektakuläre Bilder von Sieg und Niederlage, Ende und Neuanfang des Jahres 1945. Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für andere begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber, und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang. In Schiefbahn gab es erbitterte Kämpfe. Die Amerikaner marschierten ein und wurden postwendend von einem deutschen Panzerverband vertrieben. Das ging mehrere Male hin und her, wie Ludwig Hügen in seinem Buch “Der Krieg geht zu Ende – zur Operation Grenade 1945“ beschrieben hat. Von all dem habe ich nichts mitbekommen, wie gesagt, wir lebten wie auf einer Insel.

Ende 1945 war ich zufällig auf dem Hof, als die Klinke des Hoftores heruntergedrückt wurde, das Tor öffnete sich, und ein total abgemagerte Mann kam herein, es war mein Vater. Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt. Es hat lange gedauert, bis er sich erholt hat. Ein Jahr später bekam er bei der Spedition „Niederrhein-Express“ in Schiefbahn eine Anstellung. Diese Spedition befand sich auf dem Bahn- Gelände des Nordbahnhof. Wir bekamen in dem Ort eine Wohnung und zogen bei Fritz und Maria Jetten zur Miete ein. 

Blick auf die damalige Wohngegend in Schiefbahn, auf`m Diek 51, mit Blick auf Gärten und das Bruchgebiet. Heute Linselles Straße. Von der einstigen Idylle ist nichts geblieben, alles ist zugebaut. 

 Fotos: W. Marx
Werner Marx, September 2023 
PS: es ist spät geworden in meinem Leben, ich finde nur noch wenige Menschen, mit denen ich meine Erinnerung teilen kann.